Die Berichte

Sucre  (21.07. - 06.08.06)

Die Fahrt von Potosi nach Sucre wird zum Genuss. Endlich wieder asphaltierte Strassen, das Auf und Ab ist plötzlich ein Kinderspiel und wir freuen uns auf wärmere Gefilde, denn die "weisse Stadt" liegt nur auf 2700 m. Wir campen meistens und lauschen entzückt dem Zirpen der Grillen, den Geräuschen der Nacht, die wir so vermisst hatten. Erste Anzeichen kolonialer Zivilisation, marode Prachtbauten und palmengesäumte Wege lassen unsere Vorfreude aufkeimen. Wir planen, zwei Wochen in Sucre zu bleiben, unsere Radlerfreunde wiederzutreffen und noch mal unser Spanisch aufzupolieren.

Es geht erstaunlich ruhig zu in der Hauptstadt, südländisches Flair erwartet uns, wir laufen in Sandalen rum und gehen nach Herzenslust in herrliche Kneipen und sehen uns tolle Filme an. Zum Beispiel "Diario de un Motociclista", dem Reisebericht des jungen Ernesto "Che" Guevara auf seiner sechsmonatigen Motorradtour durch Suedamerika in den 50er Jahren. Die Bilder begeistern und erschrecken gleichsam: Seither hat sich an den Lebensumständen auf dem Land nicht viel verändert. Diese Reise legte den Grundstein zu den revolutionären Gedanken des legendären "Comandante".

Lachend sitzen wir in einem Knallroten Oldtimerbus, der uns schon von weitem als Gringo-Touristen markiert. Unser Ziel sind fossile Dinosaurierspuren, die auf dem Gelände einer Zementfabrik gefunden wurden. Wir stehen, die Hälse reckend und unter sachkundiger Führung vor einer immensen 80 m hohen und 1500 m breiten, senkrechten  Felswand. Kreuz und quer verlaufen kontinuierliche Fusstapfen (ich denke gar nicht daran, die Rechtschreibreform zu akzeptieren!) aller Arten von Dinos: Vor ca 65 Millionen Jahren war hier richtig Verkehr, man hat diese Giganten förmlich vor Augen, jede Art ist durch Form und Groesse eindeutig zu identifizieren. Es ist sogar die Spur eines Jungen zu erkennen, das neben seiner Mama hergetrottet sein muss! Unglaublich! Durch tektonische Verschiebung hat sich das Terrain waagerecht aufgestellt, wie eine Kinoleinwand, auf der jetzt ein überdimensionaler Jurassic Park Film abzulaufen scheint. Internationale Forscherteams arbeiten hier an der Entschlüsselung und Konservierung, man hofft auf Mittel durch die Ernennung zum Weltkulturerbe, um die labile Gesteinsschicht vor der Erosion zu schützen.

Wir finden zwei tolle Spanischlehrer, die uns in den folgenden zwei Wochen hervorragende Einblicke in die Sprache, das Leben und die Politik des Landes schenken: Jorge und Patricia, unterschiedlichster Herkunft und gegensätzlichsten Temperamentes. Wir lernen, mit Gemüsefrauen auf dem Markt zu feilschen, prügeln unregelmässige Verben in den Kopf und lernen so manches Verhalten der "Campesinos" auf dem Lande richtig zu verstehen, was uns auf der Reise durch den Altiplano oft so "spanisch” vorkam. Zum Beispiel lassen sich die Menschen nicht gerne fotografieren, weil dadurch ein Teil der Seele verloren geht. Dies kann nur mit einem "Caramelo", einem Bonbon oder einem Geldstück vermieden werden.

Der "Asamblea Constituyente", der angestrebten Verfassungsänderung sehen viele Bolivianer hoffnungsvoll entgegen. Wir werden Zeuge dieses Spektakels, als tausende von Campesinos in die Stadt strömen, um diesem Ereignis beizuwohnen. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand. Viele Geschäftsläute verrammeln ihre Läden, weil Ausschreitungen befürchtet werden. Es wird gepinselt und repariert, mit Hochdruck soll die Stadt auf Hochglanz gebracht werden, wenn alle Augen und Kameras in dieser Woche auf sie gerichtet sind.

Mit Evo Morales hat das Land kürzlich aus seinen eigenen Reihen einen "Indigeno" zum Präsidenten gewählt. Nach unzähligen Vorgängern ausländischer Prägung, die mehr zur Zementierung der ungleichen Besitzverhältnisse als zur Entwicklung des Landes beigetragen haben, setzen viele ihre Hoffnung nun darauf, dass die Erträge der reichhaltigen Bodenschätze (und des Kokaanbaus?) dem Lande selbst zu Gute kommt. Allerdings fürchten viele Geschäftsleute auch um ihren Besitz, zu sehr sind die ersten Massnahmen Morales von blindem Aktionismus geprägt, zu laut die Zwischentöne, die die enge Verbindung zu Castro und Chavez erkennen lassen, Amerika wacht mit Argusaugen über die weitere Entwicklung des Landes.

Fest steht, dass Bolivien bitter arm ist, über Jahrhunderte ausgeblutet wurde und und von einer Handvoll Superreicher beherrscht wird, die grösstenteils im Ausland leben.

Vom Fahrrad aus dürfen wir das alles sehen, spüren und riechen: Die Reichhaltigkeit, Kultur und Schönheit der Stadt und andererseits den trostlosen Stumpfsinn im Hochland. Von all der Farbenpracht, der Musik und dem Stolz, den die Tourismusbroschüren verheissen, ist auf dem Land nicht mehr viel da.

Was ist geblieben von der Hochkultur der Inka, mit deren Reich das Wissen von Astronomie, Genetik und Landwirtschaft untergegangen ist. Aus den Augen der "Campesinos" blicken uns oft nur noch Resignation und Trägheit an. Das Kokablatt, einst nur zu rituellen Zwecken verwendet, hilft heute den ganzen Tag über den Stumpfsinn des Tages hinweg. Die zahllosen religiösen Feste haben keinen mystischen Reiz, die "Virgen" in Form einer kitschigen, überladenen Plastikfigur wird durchs Dorf getragen, schräge Blasmusik in ohrenbetäubender Lautstärke und zu alledem gesoffen bis zur Besinnungslosigkeit.

Beim Anblick der unzähligen Kirchen befällt mich ein ungutes Gefühl. Viele stehen auf den Grundmauern geschliffener Inkapaläste oder Kultstätten. Beim Kirchgang gilt die Aufmerksamkeit meist mehr dem "heiligen Stein " neben dem Kirchenportal als der Predigt.

In theatralischer Gestik bekreuzigt sich jeder, wenn er eine Kirche passiert, im Alltag jedoch haben weder die drei ehernen Gesetze des Sonnengottes (ama sua, ama quella, ama llulla), d.h. nicht stehlen, lügen oder faul zu sein, noch die zehn Gebote eine grosse Bedeutung. Verlogenheit und Rücksichtslosigkeit sind hier an der Tagesordnung, was eine Fahrradreise nicht immer einfach werden lässt.

Viele Fragen schwirren durch unsere Köpfe: Haben wir Europäer heute noch zu verantworten, dass dieses Volk überrannt, ausgeplündert und seiner Jahrtausende alter Tradition beraubt wurde? Ist das Christentum, resp. die Lehre der katholischen Kirche die richtige Religion für dieses Volk? Was ist schlecht daran, einen Berggipfel anzubeten, einem Kult zu folgen, der die Menschen als Teil der Mutter Erde begreift und fest verwurzelt alten Traditionen zu folgen?